Ralf Stutzki, aidosmedia
Martin Suter’s neuer Roman „Melody“ handelt von einem alten, kranken und sehr wohlhabenden Mann in Zürich, Dr. Peter Stotz, dessen beachtliche Lebensleistung durch ein mysteriöses Ereignis getrübt wurde. Und es stellt sich die Frage, ob dieses Ereignis - eine Liebesgeschichte, die Stotz vor 40 Jahren mit der jungen muslimischen Buchverkläuferin Melody erlebt haben will - tatsächlich so stattgefunden hat; und falls ja, warum dann die junge Melody ihn, den erfolgreichen und gut situierten Geschäftsmann, wenige Tage vor der Hochzeit verliess.
Heute ist Stotz ein Erzähler, alt und sterbenskrank. Er sitzt in seiner Zürcher Villa, standesgemäss mit Köchin, Butler, und einem Bankkonto, das mindestens genauso voll ist wie der Weinkeller mit erlesensten Tropfen. Und diesen ist er ganz offensichtlich fest entschlossen, vor seinem bevorstehenden Ableben - der Arzt gibt ihm noch maximal 12 Monate - leer zu trinken. Leer zu saufen, müsste man richtigerweise sagen, denn Stotz ist ein 24/7 Trinker vor dem Herrn, der sich allerdings nicht allein berauschen mag, und so stellt er einen jungen, arbeitslosen Anwalt Tom ein, dessen hoch bezahlte Aufgabe eine dreifache sein wird: 1. den Stotzschen Nachlass zu ordnen, 2. sich die Geschichte über Melody bis zu ihrem Verschwinden vor 4 Jahrzehnten anzuhören und 3. mitzutrinken. Damit dieser Aufgabenkatalog problemlos abgearbeitet werden kann, darf Tom dann auch in die Einliegerwohnung einziehen, mietfrei, natürlich, inklusive Vollverpflegung (die Köchin!) und Vollrausch (der Butler!!).
Martin Suter beschreibt den Zürcher Geldadel wie man ihn auch heute noch an der Goldküste vermutet und zweifellos in der ehrwürdigen, legendären Zürcher Kronenhalle beim Lunch oder Dinner antreffen kann. Der feine Dr. Stotz muss hier in besseren Tagen Stammgast gewesen sein.
Kommt der Alte sympathisch daher? Nicht wirklich. Zwar erzählt er durchweg spannend, detailverliebt und nicht ohne Witz von seiner Beziehung zu Melody, deren spurloses Verschwinden er nie überwunden habe; aber irgendetwas lässt einen besser Abstand zu ihm halten. Vielleicht sind es die alten Seilschaften, diese typisch Schweizerische Militärkarriere, die seit Menschengedenken den beruflichen Aufstieg, Wohlstand und Überheblichkeit der Auserwählten garantiert, oder einfach nur die morbide Atmosphäre in des Doktor‘s Villa. Keine andere Liebesbeziehung folgte auf die zu Melody, warum nur, er war und ist doch eine hervorragende Partie, mit dem kann man bei La Traviata in der Zürcher Opernloge gesehen werden. Alles hängt an Melody und ihrem Verschwinden. Von einem Tag auf den anderen verschwand sie spurlos. Weggegangen? Fortgeholt? War es der eigene Wunsch, ein Unglück oder sogar Mord?
Martin Suter ist ein grosser Erzähler, das war er immer schon, weshalb ich ich ihm auch wie viele seiner Jünger den Kinofilm über sich auf dem Piazza Grande beim Filmfestival Locarno und das Schweinsteiger Buch nicht verüble. Öfter mal was Neues ausprobieren, nicht immer nur nach dem Applaus der Anderen schielen. Aber mit Melody kehrt Suter, so scheint es, zurück zu seiner grossen Linie. Hier nimmt uns der Autor (wieder) mit auf eine Lese- und Liebesreise, in das Zentrum seiner Erzählkunst und macht uns zu einem Teil des literarischen Geschehens. Gleich wie der junge Anwalt Tom wissen wir plötzlich nicht mehr ob das, was wir über Stotz und Melody erfahren einer vertrauenswürdigen Quelle entstammt.
Das Entknoten der Geschichte ist dann leider nicht sonderlich überraschend. Aber das macht nichts, denn in dem Roman geht es doch zuallererst um diesen alten Machtmenschen Dr. Stotz, dem dunklen Erzählkünstler. An ihm knabbert sich der Leser fest. Man hört ihm gerne zu, dem Alten. Ein Glas mit ihm trinken aber möchte man nicht.
Martin Suter: Melody. Diogenes Verlag, 2023. 326 S., ca. 35 Fr.