· 

Sophokles Philoktet. Neu übersetzt von Kurt Steinmann


Ralf Stutzki, aidosmedia

Warum sollte man ein beinahe 2500 Jahre altes Theaterstück neu übersetzen? Es haben sich doch zuvor bereits andere daran mal mehr, mal weniger erfolgreich versucht. Ausserdem: welchen Sinn macht es, dieses 431 vor Christus uraufgeführte Werk, das zu den berühmtesten altgriechischen Tragödien gezählt wird, in ein neues sprachliches Gewand zu kleiden und, wie nun geschehen, vom Diogenes Verlag als Buch herauszugeben? Es macht grossen Sinn.

 

Diese Ausgabe von Sophokles' Philoktet ist ein Glücksfall, und wenn das zu übertrieben tönt, zumindest ein Hoffnungsschimmer. Es ist wahrlich beeindruckend, wie der bekannte Zürcher Altphilologe Kurt Steinmann den Text in eine bunte und vor allen Dingen zeitgemässe Sprache übersetzt hat und somit ein grossartiges Werk von einem neuen Publikum erschlossen werden kann. Philoktet ist in der Tat eine bedeutende menschliche Tragödie, ein Drama, das zeigt, wie durch Intrigen, Lügen und falsche Versprechungen Menschen für politische Ziele instrumentalisiert werden können. 

 

Die Schlacht um Troja ist fast verloren, nur mithilfe des Kriegers Philoktet und dessen magischen Bogen, so lautet die Prophezeiung,  kann sie noch gewonnen werden. Doch wie soll Odysseus den Krieger von der Rückkehr in den Kampf überzeugen, hat er ihn doch bereits Jahre zuvor verwundet auf der einsamen Insel Lemnos ausgesetzt und seinem Schicksal überlassen? So schmiedet Odysseus einen teuflischen Plan, indem er Neoptolomeos bedrängt, den Philoktet zu betrügen und mit einer Lügengeschichte von der Insel zurückzuholen. Neoptolomeos wehrt sich zunächst hartnäckig gegen dieses Ansinnen,  er ist schliesslich ein aufrechter Mann, doch Odysseus bleibt hartnäckig und verspricht ihm Heldenruhm nach gewonnener Schlacht. Lüge, erklärt Odysseus, sei gerechtfertigt, wenn sie „Rettung bringt“. Der Zweck heiligt die Mittel. Und Neoptolomeus knickt ein: „So sei’s! Ich werd es tun, geb jeden Skrupel auf.“

 

Am Ende des Dramas – Philoktet hat erkannt, dass er von Neoptolomeos im Auftrag des Odysseus belogen worden ist, steht die grosse menschliche Niederlage. Die Moral und all die Werte, die das menschliche Miteinander ausmachen und erst ermöglichen, liegen wie ein Scherbenhaufen auf dem Boden. Und Neoptolomeos, der sich durch die Versprechen des Odysseus gänzlich aufgegeben hat, vermag Philoktet, der ihn zur Rede stellt, nicht einmal mehr in die Augen zu schauen. Etwas zutiefst Menschliches ist ein für alle Mal niedergeknüppelt worden, es kann nicht mehr geheilt werden. Was für ein Trauerspiel und was für eine Warnung.

 

Das grosse Drama von Sophokles passt mehr denn je in die heutige Zeit. Wie gut und wichtig, dass Steinmann diesen Text  in unsere Gegenwart hinein übersetzt hat.

 

Sophokles. Philoktet. Diogenes Verlag, 2022, 144 S., sFr 34.00